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Was es sozialpädagogischen Organisationen nutzt, sich nicht an Regeln zu halten

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Soziale und insbesondere sozialpädagogische Organisationen brauchen einen wohlkalkulierten Regelbruch, um bestehen zu können. Sie entwickeln sich nur weiter, wenn Mitarbeitende die geltenden Regeln großzügig auslegen und sich nicht sklavisch an sie halten. Führungskräften haben hier große Verantwortung im Spannungsfeld zwischen Ist und Soll.

Gelten die Regeln noch?

Organisationssoziologe Stefan Kühl veröffentlicht 2020 ein Buch mit dem Titel „Brauchbare Illegalität. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen“. Aufbauend auf Niklas Luhmann, der diesen Begriff 1964 entwickelt hat, nennt er folgende Kriterien, an denen zu erkennen ist, ob Regeln noch gelten:

  • Die Regelabweichung wird mühsam verdeckt.
  • Der regelverletzende Person muss eine entschuldigende Begründung vorbringen.
  • Die Person wird nach Bekanntwerden des Regelverstoßes isoliert.

Ist dies die geltende Konvention, dann hat das formale Regelwerk seine Gültigkeit als Regulierungsinstrument noch nicht verloren. 

Wann Regelverletzungen problematisch werden

Findet hingegen eine Regelverletzung folgenlos öffentlich statt, wird sie nicht sanktioniert, dann ist sie offenbar sozial akzeptiert. Sie hat ihre Wirkmächtigkeit verloren und gilt einfach nicht mehr. Werden dann noch statt der regelverletzenden Person diejenigen isoliert, die an die Regeln erinnern, wird es besonders kritisch.

 

In Organisationen wird dadurch die Lücke zwischen dem, was vorgeblich sein Soll (das Handeln nach vorgegebenen Regeln) und dem, wie es tatsächlich Ist (das selbstentschiedene Handeln) offensichtlich. Die formalen Regeln dienen in diesem Fall noch maximal als konzeptionelle Grundlage, als Ursprungsidee, die aber mit der Realität nicht konform geht.

 

Erst dann werden Regelverletzungen zu einem tatsächlichen Problem für die Organisation.

 

Das klingt abwegig? Ist es allerdings nur in Teilen. 

Beispiel Straßenverkehr

Grundsätzlich würden sicherlich die meisten Menschen zustimmen, dass es grundsätzlich sinnvoll ist, sich an die Straßenverkehrsordnung zu halten. Allerdings werden die gesetzlichen Vorgaben im Alltag oft großzügig ausgelegt:

  • Als Radfahrer*in wird schon mal die Straße 100 Meter vor der nächsten Ampel überquert, oder die Grünphase wird etwas gestreckt mit dem Gedanken „Das schaffe ich noch“.
  • Als Autofahrer*in wird mit Geschwindigkeitsübertretungen ähnlich kreativ umgegangen, ein bisschen „drüber“ ist scheinbar oft notwendig, um kein Verkehrshindernis zu sein.

Der Maßstab ist hier nicht, was tatsächlich gilt, sondern er liegt darin, wie die Mehrheit sich verhält und wie (vermeintlich) überschaubar das Risiko ist. Genutzt wird der vorhandene Spielraum und das eigene Verhalten wird vor dem Hintergrund der zu erwartenden Folgen abgewogen: Verletzungsgefahr, Strafwahrscheinlichkeit, Strafhöhe zum Beispiel. Inwieweit diese Einschätzung der Realität entspricht, ist eine ganz andere Frage, die hier nicht weiter beleuchtet werden kann.

Alltag in Organisationen

Auch in beruflichen Zusammenhängen existiert oft ein Spannungsfeld: Auf der einen Seite die formalen Vorschriften und auf der anderen Seite die Alltagsrealität, das „So-macht-man-es-eben-hier“, die Organisationskultur. Nicht umsonst gilt Dienst nach Vorschrift als effektivste Streikform.

Wie Regelabweichungen in sozialpädagogischen Organisationen bewertet werden

Im Laufe von vielen Jahren habe ich in sozialpädagogischen Organisationen verschiedene Regelbrüche erlebt und auch, wie unterschiedlich sie bewertet wurden:

Erwünscht:

Die nicht zu enge Auslegung von Arbeitszeitregelungen ist oft üblich; in der Arbeit mit Menschen wird hier eine gewisse Flexibilität verlangt. Gleichzeitig wird erwartet, den formalen Rahmen einzuhalten. Was hier noch erlaubt ist und was nicht, wird oft auf Teamebene direkt geklärt. Hier spielt die Konvention, die Erwartung an das konkrete Arbeitsfeld eine große Rolle. Zum Beispiel wird im ambulanten Bereich eine wesentlich größere Flexibilität erwartet als im stationären – obwohl ähnliche Arbeitszeitregelungen gelten.

Ambivalent:

Dass Mitarbeitende nach Dienstschluss in der Freizeit E-Mails lesen und an das Diensttelefon gehen, wird zweischneidig bewertet. Es gilt einerseits oft als zweckdienliches Engagement und wird als solches von Vorgesetzten und Kolleg*innen erwartet. Sollten Mitarbeitende allerdings andererseits dafür Arbeitszeit geltend machen wollen, wird es abgelehnt und gegebenenfalls sogar untersagt.

Kritisch hinterfragt:

Außerhalb der eigenen Arbeitszeit zum Beispiel am Wochenende Termine mit Klient*innen wahrzunehmen, weil diese dringenden Unterstützungsbedarf äußern, wird üblicherweise von Leitungskräften und im Team hinterfragt. Zwar wird die darin ausgedrückte Kundenorientierung wahrgenommen und meist auch gewürdigt, gleichzeitig bestehen aber Vorbehalte aus unterschiedlicher Richtung. Bei den Teamkolleg*innen besteht die Sorge, dass dies üblich werden könnte und damit durch die Hintertür zu einem Standard werden könnte. Die Leitung ist skeptisch, da die Mitarbeitenden damit die vorgesehene Arbeitszeitregelung sprengen und in der Folge zu den üblichen Zeiten fehlen.

Sanktioniert:

Zur Aufgabe eines Teams der ambulanten Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung gehörte es, den Klient*innen den monatlichen Barbetrag zur persönlichen Verfügung zu verwalten und regelmäßig Beträge auszuzahlen. Im Team war es üblich, sich einen Betrag aus der Kasse zu nehmen und dies handschriftlich zu dokumentieren. Damit wurden dann die Ausgaben für den Klienten / die Klientin getätigt und Quittungen nachgereicht – zum Teil einige Tage oder auch Wochen später. Zum Monatsabschluss stimmte dann der Kassenbestand im Normalfall. Mit Einführung eines EDV-Buchungssystems wurde diese laxe Praxis mit Hinweis auf geltendes Recht von der zentralen Verwaltung der Organisation verboten und tagesaktuelle Kassenführung wurde angewiesen. Die Praxis der Betreuer*innen passte sich nur schwer an, trotz ausführlichen Darlegungen und Besprechungen im Team. Einige Mitarbeitenden veränderten ihr Vorgehen nicht, da es ihrem Verständnis von angemessener Betreuung ihrer Klient*innen entsprach. Das führte schließlich dazu, dass sie zunächst ermahnt und in der Folge schließlich abgemahnt wurden. Von den Betroffenen Mitarbeitenden wurde die zentral vorgegebene Vorschrift mit Hinweis auf die pädagogischen Belange ignoriert und führte für sie zu personalrechtlichen Konsequenzen.

Die Ereignisse an sich hätte jeweils auch anders bewertet werden können. Für jedes genannte Beispiel gibt es Argumente für eine strengere oder auch nachgiebigere Umgehensweise damit. Diese Diskussion soll hier nun nicht geführt werden. Vielmehr stellt sich die Frage, was daraus für Erkenntnisse abzuleiten sind.

Was bedeutet das konkret?

Michael Herzka beschreibt es in seinem Buch „Führung im Widerspruch“ zum Management in Sozialen Organisationen im Jahr 2013 folgendermaßen: „Innovationsorientierte Veränderungen werden nur durch Vielfalt und Abweichung möglich, nicht durch Konformität.“ (Seite 51)

 

Müssen demnach Regeln gebrochen werden, damit eine soziale bzw. sozialpädagogische Organisation bestehen kann? Selbst wenn diese Frage bejaht wird, bleibt offen, was das konkret bedeutet. Es bleibt zunächst ungeklärt, wovon es abhängt, ob ein nonkonformes Verhalten eher als innovativ bewertet wird oder als unangemessen gilt – und wann genau eine rote Linie überschritten ist.

 

In dieser Frage liegt für den Zusammenhalt innerhalb von sozialen Gefügen eine große Herausforderung. Sie berührt sozialethische Grundsätze genauso wie juristische Fragestellungen und ist nicht leicht zu beantworten. Und gleichzeitig ist die Auseinandersetzung über die darin liegende Gratwanderung wichtig für die Mitglieder jeder formalen Organisation.

Neue Mitarbeitende als Spiegel

Neue Teammitglieder werden im Onboarding herangeführt daran, wie konkret vor Ort gearbeitet wird. Es erfolgt üblicherweise eine Einführung mit Übergabe von offiziellen Regelungen wie Leitbild, Dienstanweisungen, Qualitätsmanagement-Handbuch etc. Gleichzeitig wird die Einarbeitung im Team vorgenommen, um die Abläufe vor Ort kennenzulernen. In dieser Phase werden Inkongruenzen am ehestens deutlich, wenn dem/der Neuen Gelegenheit gegeben wird, die entdeckten Widersprüche zu thematisieren. Oder indem er/sie sich anders als üblich verhält und vom Team hinterfragt wird.

Umgang damit in der Praxis

Um zukunftsfähig zu sein, braucht eine soziale Organisation eine transparente Auseinandersetzung mit Regeln und Regelbrüchen:

  1. Grundvoraussetzung ist eine Führung, die die Funktionalität von Regelabweichungen anerkennt.
  2. In der Organisation braucht es eine Grundhaltung, die auf allen Ebenen die Frage nach dem Warum fördert und auch beantwortet. (Kein „Das ist nun einmal so. Das wird nun mal von uns erwartet.“)

Die Lösung, die Stefan Kühl nennt: Brauchbare Regelabweichungen sollten von der Führung gemanagt werden, indem sie kleine Räume schafft, in denen Regelabweichungen thematisiert und diskutiert werden können.

  • Es sollte über die verschiedenen Risiken gesprochen werden: rechtliche, konzeptionelle, teambetreffende und so weiter.
  • Es sollte der Umgang damit geklärt werden. Entweder sollte in der Folge die Regelabweichung abgestellt oder – wenn das Risiko vertretbar ist – sollte sie perfektioniert werden, um den damit verbundenen Nutzen zu fördern.

Fazit:

Regelbruch ist Realität.

 

Der Umgang mit Regelbruch ist ambivalent.

 

Insbesondere soziale Organisationen in der personalen Dienstleistungen müssen die Gratwanderung zwischen der offenen Anerkennung von Regelbrüchen und ihrer Tabuisierung schaffen, um Entwicklung zu fördern.

Ich bin gespannt auf Ihre Rückmeldungen und Kommentare: Schreiben Sie mir gern!


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