Vom Sinn und Unsinn von Reifegradmodellen
Ich mag Bananen. Nicht die Grünen, sondern die schön Gelben. Und wenn sie braun werden, kommen sie in einen Shake oder ein Bananenbrot. Was ich nicht mag: Eine Reife-Einteilung von Mitarbeitenden durch die Führungskraft.
Reifegradmodelle
Es gibt verschiedene Reifegrad-Modelle, die suggerieren, Führungskräfte könnten durch eine Einschätzung der Teammitglieder den eigenen Führungsstil passgenauer gestalten. Beim Modell von Hersey und Blanchard aus den 1970ern geht es beispielsweise darum, jedem Mitarbeitenden einen von vier Reifegraden zuzuordnen, um das eigene Führungsverhalten entsprechend anzupassen:
1 – Hohes Engagement bei gleichzeitig wenig Kompetenz: Hier soll die Führung viel dirigieren.
2 – Hohe Motivation bei nur teilweise vorliegender Kompetenz: Hier braucht es vorgeblich viel Anleitung.
3 – Gute Kompetenz bei mittelmäßiger Motivation: Diese Mitarbeitenden sollen über viel Partizipation "eingefangen" werden.
4 – Hohe Kompetenz und hohe Motivation: Hier könne viel delegiert werden.
Bei Beachtung dieser unterschiedlichen Reifegrade und entsprechendem Führungshandeln wird eine größere Arbeitseffizienz versprochen.
Effizienzversprechen und Worte mit Wirkung
Ich bringe diesem Modell allerdings eine doppelte Skepsis entgegen:
Erstens „füttert“ dieses Denken leider einen Steuerungsmythos von Führung, vor allem, da in diesem Zusammenhang von größerer „Effizienz“ die Rede ist. Als könne eine Führungskraft ihre Mitarbeitenden garantiert zur Leistung bewegen, wenn sie sie nur richtig einschätzen und ansprechen würde. Dieses Kausalitätsversprechen halte ich für höchst vereinfachend und wenig zielführend. Es hat eher eine frustrierende Wirkung auf alle Beteiligten.
Zweitens weckt der Begriff „Reifegrad“ Assoziationen zu einer linearen Entwicklung von „unreif“ zu „vollreif“, wie bei Obst und Gemüse. Dabei ist unreif das Schlechte, das man (noch) nicht nutzen kann, und reif ist das einzig Gute. Mal abgesehen von der Tatsache, dass beim Obst und Gemüse nach der Vollreife das Gemüse schlecht wird - ein Schelm, wer Böses dabei denkt 😉-, erzeugt es in mir noch aus anderen Gründen ein Unbehagen: Menschen entwickeln sich nicht gradlinig in eine vorgegebene Zielrichtung von „noch nicht zu gebrauchen“ bis hin zu „voll nutzbar“. Dieses Denken diskreditiert die vielfältige menschliche Entwicklungsfähigkeit.
Veränderte Arbeitswelten und Erwartungen an Führung
Es ist nicht mehr so, wie es vielleicht früher einmal war: Mitarbeitende sind heute in ihrem Handeln immer seltener auf Führung fixiert. Vielmehr sind Eigeninitiative, Zusammenarbeit im Team und Problemlösungsorientierung wichtiger denn je. Dementsprechend ist es für Führungskräfte auch immer seltener möglich, einzelne Arbeiten zu dirigieren oder delegieren.
Was Teams heute benötigen, sind Menschen, die sich mit ihrer Vielfalt aufeinander einlassen und gemeinsam Lösungen für die wachsenden Herausforderungen entwickeln und umsetzen. Diese Menschen braucht es sowohl in der verantwortlichen Führung als auch im Team. Ihre unterschiedlichen Kompetenzen sind wichtig und wertvoll, sie können und sollten sich ergänzen. Ansonsten droht die Gefahr, im Immer-Gleichen zu verharren.
Also: Alles schlecht an der Analyse von Mitarbeitenden?
Was für mich der große Gewinn des oben beschriebenen Modells ist: Die Erkenntnis, dass Mitarbeitende unterschiedlich „ticken“. Sie denken verschieden und gehen nicht alle auf die gleiche Weise mit Problemen um. Genau das ist von Führung als wertvolle Ressource zu erkennen und zu nutzen. Eine Einteilung in Reifegrade ist allerdings nicht sehr wertschätzend.
Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse
Es gibt alternative Denkmodelle. Mir gefällt diesbezüglich sehr gut das in der Lernforschung durch David Kolb und Bernice McCarthy ebenfalls in den 1970ern entwickelte 4MAT-Modell (ausgesprochen wird es "Format"). Darin wird abgebildet, dass Menschen sich in Bezug auf das Lernen – und damit im Umgang mit allem, was neu ist, – unterscheiden:
35% wollen wissen, WARUM man sich mit einem Thema beschäftigen soll: „Warum ich/warum wir, warum jetzt?“
20% wollen wissen, mit WAS sie sich eigentlich beschäftigen: Zahlen, Daten, Fakten rund um die Sache selbst.
20% wollen wissen, WIE etwas gehen wird: „Wie funktioniert es, wie kann ich damit umgehen?“
25% wollen wissen, WOZU sie das Neue nutzen können: „Was mache ich dann damit konkret?“
Die verschiedenen Blickwinkel gezielt nutzen
Führungskräfte, die diese Erkenntnis in die Besprechungen innerhalb der Teams einfließen lassen, können ihre Mitarbeitenden eher für Neues gewinnen oder auch mögliche Fragen oder Bedenken besser nachvollziehen. Tatsächlich sind die im 4MAT-Modell beschriebenen unterschiedlichen Herangehensweisen an Themen und Probleme sogar wertvoll für die Entwicklung von Umsetzungsschritten. Es ist hilfreich, alle vier Fragestellungen gut zu klären und die darin liegenden Perspektiven zu nutzen.
Fazit
Bei Bananen ist der Reifegrad entscheidend, um sie gut verwerten zu können. Bei Teams geht es um etwas anderes, nämlich darum, als Führungskraft ein Bewusstsein dafür zu haben, warum Mitarbeitende unterschiedlich agieren und dass diese vorhandene Vielfalt positiv genutzt werden kann. Zum Beispiel können die oben beschriebenen vielfältigen Herangehensweisen und Fragestellungen an Neues für erfolgreiche Zusammenarbeit genutzt werden, indem anstehende Themen von verschiedenen Seiten beleuchtet und umfassend besprochen werden.